Das Mittelalter – wir haben alle ein bestimmtes Bild vor Augen, wenn dieser Begriff aufploppt.
Von romantisch-verklärt bis gewalttätig-düster.
Wenn ihr nicht gerade Historiker:innen seid, ist dieses Bild maßgeblich von Hollywood, historischen Romanen und Mittelalterdokumentation – wie Terra X – bestimmt.
Das ist bei mir lange Zeit nicht anders gewesen. Als belesener Bildungsbürger bin ich der Meinung – da kann ich mitreden.
Durch die Recherchen zu dem Projekt „Kiel 1242“ und alternativen Beiträgen zum Theme Mittelalter – wie der Videoblog Geschichtsfenster – muss ich das meiste davon revidieren und mein Konzept vom Mittelalter völlig neu definieren.
Das dreckige Mittelalter
Eine Abbildung, die gerne als Beleg für das dreckige und stinkende Mittelalter herangezogen wird. Eine nackte Frau schüttet den Inhalt ihres Nachtopfes aus dem Fenster auf die Straße – so scheint es zumindest.
Auch in der Serie Terra X: Ein Tag im Mittelalter wird eine vergleichbare Szene gezeigt.
Werfen wir doch mal einen Blick auf das gesamte Bild – es stammt aus dem Narrenschiff von Sebastian Brant (Brant, 1494).
Dazu ein Auszug aus dem Text zum Bild:
Jetzt wär schier aus der Narrentanz,
Aber das Spiel doch noch nicht ganz,
Wenn nicht hier wären auch die Löffel[1]
Die Gassentreter und die Göffel,[2]
Die in der Nacht nicht ruhen können,
Wenn sie nicht auf die Gasse rennen
Und schlagen Laute vor der Tür,
Ob nicht das Mädchen schau herfür.
Nichts andres von der Straß sie bringt,
Bis man mit Kammerlaug‘[3] sie zwingt
Oder bewirft mit einem Stein. (Brant, 1494)
[1] Löffel: Liebhaber, Laffen
[2] Göffel: Gaffer – die nur Augen für die Weiber haben
[3] Kammerlauge: Urin
Das heißt, die nervenden, in der Nacht lärmenden Narren lassen sich nur vertreiben, wenn man sie mit dem Inhalt eines Nachttopfes übergießt oder mit einem Stein bewirft.
Das Bild beschreibt damit ein besonderes Ereignis – was kommt hin und wieder mal vor – und keine permanente Struktur – was ist Alltag und allgemein üblich.
Also ein grundlegendes Konzept der Geschichtswissenschaften: Struktur und Ereignis (Suter & Hettling, 2001).
Das gesamte Bild und der erläuternde Text beschreiben einen Mann, der sich abwendet. Der Boden Latrine ist unter ihm weggebrochen und voller Scham versucht er sich vor den Gaffer:innen zu verbergen (Decamerone, Boccaccio, 1349-1353).
Ein weiteres Beispiel stammt aus dem Decamerone und auch hier wird durch die Wahl des Ausschnitts ein falscher Eindruck erweckt.
FAKT: Urin ist im Mittelalter ein Rohstoff, der von Gerber:innen und anderen Handwerker:innen gesammelt und aufgekauft wird. Ebenso wie Fäkalien im Allgemeinen als Dünger verwendet werden. Also ein Rohstoff, der - wenn auch nicht viel - als Einnahmequelle diente. Wir sollten uns einfach mal vor Augen führen, welcher Müll im Mittelalter entstanden ist und einfach weggeworfen wird. Mir fällt da schlicht und ergreifend nichts ein. Wenn es eine Zeit gibt, in der alles eine Ressource ist und zu 100 % recycelt wird - dann ist es das Mittelalter.
Das dunkle Mittelalter
„Leibeigenschaft, Folter, Aberglaube, Hexenverfolgung, Armut, Unwissen, Pest, Kriege … „
Diese Liste könnte ich beliebig verlängern. Das assoziieren viele von uns, wenn wir den Begriff „das dunkle Mittelalter“ hören. Wissenschaftlich wird damit auch der Zeitraum im Mittelalter definiert, über den wir am wenigsten wissen und wenige Quellen haben (vergleiche Wikipedia oder ÖAW).